In dem Adventskalender „Der Adere Advent“ habe ich vor ein paar Jahren folgende Geschichte gelesen, die mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen ist…
Liebe Mama, lieber Papa,
seit ich im Internat bin, war ich, was das Briefe schreiben angeht, sehr nachlässig. Ich will Euch nun auf den neusten Stand bringen, aber bevor Ihr anfangt zu lesen, nehmt Euch bitte einen Stuhl. Ihr lest nicht weiter, bevor Ihr Euch gesetzt habt! Okay?
Also, es geht mir inzwischen wieder einigermaßen. Der Schädelbruch und die Gehirnerschütterung, die ich mir zugezogen hatte, als ich aus dem Fenster des Wohnheims gesprungen bin, nachdem dort kurz nach meiner Ankunft ein Feuer ausgebrochen war, sind ziemlich ausgeheilt. Ich war nur zwei Wochen im Krankenhaus und kann schon fast wieder normal sehen.
Glücklicherweise hat der Tankwart einer Tankstelle das Feuer im Wohnheim und meinen Sprung aus dem Fenster gesehen und die Feuerwehr und den Krankenwagen gerufen. Er hat mich auch im Krankenhaus besucht – und da das Wohnheim abgebrannt war, und ich nicht wusste, wo ich unterkommen sollte, hat er mir netterweise angeboten, bei ihm zu wohnen. Eigentlich ist es nur ein Zimmer im ersten Stock, aber es ist doch recht gemütlich.
Er ist ein sehr netter Junge und wir lieben uns sehr und haben vor zu heiraten. Wir wissen noch nicht genau wann, aber es soll schnell gehen, damit man nicht sieht, dass ich schwanger bin. Ja, Mama und Papa, ich bin schwanger. Ich weiß wie sehr Ihr Euch freut, bald Großeltern zu sein – und ich weiß, Ihr werdet das Baby gern haben und ihm die gleiche Liebe, Zuneigung und Fürsorge zukommen lassen, die Ihr mir als Kind gegeben habt.
Ich weiß, Ihr werdet ihn mit offenen Armen in unserer Familie aufnehmen. Er ist nett, wenn schulisch auch nicht besonders ausgebildet. Auch wenn er eine andere Hautfarbe und Religion hat als wir, wird Euch das sicherlich nicht stören.
Jetzt, da ich Euch das Neuste mitgeteilt habe, möchte ich Euch sagen, dass es im Wohnheim nicht gebrannt hat, ich keine Gehirnerschütterung oder Schädelbruch hatte, ich nicht im Krankenhaus war, nicht schwanger bin, nicht verlobt, und auch keinen Freund habe.
Allerdings bekomme ich eine sechs in Geschichte und eine fünf in Chemie, und ich möchte, dass Ihr diese Noten in der richtigen Relation seht!
Eure Tochter Johanna
(aus: Kalender „Der Andere Advent“ 2007/2008, Verein Andere Zeiten e.V. Hamburg, www.anderezeiten.de)
Für jeden ist etwas anderes eine schlimme Erfahrung, eine unerträgliche Situation – und das ist auch vollkommen gerechtfertigt. Jeder hat andere Erfahrungen, andere Vorstellungen, eine andere Schmerzgrenze.
Mir hilft die oben stehende Geschichte, manchmal meine Situation in einem anderen Licht zu sehen. Ehrlicherweise muss ich sagen, dass ich es nicht schätze, wenn mich ein anderer darauf hinweist, dass ich die Relationen verschieben sollte. Aber wenn ich selbst drauf komme, ist es sehr erleichternd und befreiend… die Dinge ändern sich zwar dadurch nicht, werden aber meist im Zusammenhang besser erträglich.
Beate Czabaun